Anfang März 2016 geisterte eine Statistik durch die Medien im In- und Ausland. Die Hochrechnung von Hachem Sadikki, Statistiker der Universität von Massachusetts, besagt: Bei der derzeitigen Entwicklung wird im Jahr 2098 die Zahl der Facebook-Profile Verstorbener erstmals die der Lebenden übersteigen.
Egal ob The Telegraph, Daily Mail, BILD-Zeitung oder CHIP: In allen Texten wird das Bild eines großen Friedhofs herangezogen. Als Ursache für die Entwicklung wird der Umstand angegeben, dass Facebook nach dem Tod eines Nutzers Profile nicht automatisch löscht, sondern in eine „Erinnerungsversion“ umwandelt.
Glaskugeln und Prognosen
Gut, bis 2098 haben wir noch etwas Zeit. Es ist offen, ob gegen Ende des Jahrhunderts Dienste, die unsere heutige Social-Media-Landschaft prägen, noch existieren werden. Birgit Aurelia Janetzky (Semno) kommentiert in einem Facebookpost lakonisch: „Die Bildzeitung blickt in die Glaskugel. Meine Glaskugel sagt: Facebook wird es 2098 gar nicht mehr geben“.
Was wir zweifelsohne aber schon jetzt sehen, sind die „Erinnerungsversionen“ von Profilen, und zwar nicht nur bei Facebook. Sie ausschließlich als unheimlich zu bezeichnen, reicht nicht aus. Denn Tod, Trauer und Gedenken haben ihren Platz im Netz. Schon lange wird der Raum Internet auch dafür genutzt.
Roger Cicero, Guido Westerwelle und Hans-Dietrich Genscher – R.I.P.
Dass es auch einen Verlust bedeuten kann, Profile Verstorbener standardmäßig zu löschen, lässt sich am Beispiel verstorbener Personen des öffentlichen Lebens zeigen. Anhänger, Fans etc. finden im Netz gerade auch in den Social-Media-Profilen der Verstorbenen eine Anlaufstelle, um ihre Trauer auszudrücken und ihre Beileidsbekundungen auszusprechen. Der Post zu Roger Ciceros Tod vom 29.03.2016 wurde innerhalb weniger Tage 17.810 Mal geteilt, 26.777 Mal „geliked“ und 3.751 Mal kommentiert.
Auch auf Guido Westerwelles Facebook-Seite drücken die Menschen ihren Kummer aus. Da nicht wie in Roger Ciceros Fall eine offizielle Nachricht zum Tod veröffentlicht wurde, kommentieren Tausende den letzten Post des am 18. März 2016 verstorbenen Politikers, den er am 06.12.2015 zum Thema Jahresrückblick bei Günther Jauch abgesetzt hatte.
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, gestorben am 31. März, verfügte über keine Social-Media-Profile, lediglich über eine etwas altbackene Website. Daher wurde um ihn auf fremden Kanälen getrauert – zum Beispiel auf Twitter, wie Rob Vegas zeigt.
Was hier im Großen stattfindet, kann sich auch auf den Social-Media-Accounts von Privatpersonen im Kleinen abspielen. Immer vorausgesetzt, dass die Todesnachricht bekannt wird. Die Digitalisierung versetzt auch die Trauerkultur unserer Gesellschaft in einen Wandel.
Das Netz als Platz für die Lebenden und die Toten?
Und nicht zu vergessen: Neben Facebook-Profilen im Gedenkzustand, die dort neben den Profilen Lebender stehen, gibt es zahlreiche ausgewiesene Gedenkseitenportale wie Gedenkseiten.de. Dortige Voraussetzung für ein Profil: Man muss bereits verstorben sein. Statt zu löschen, schaffen hier Lebende aktiv Profile für Verstorbene, um eine virtuelle Gedentstätte einzurichten. Das Netz als Friedhof ist also kein neues Thema – dank Sadikkis Hochrechnung ist es aber wieder einmal in den aktuellen Diskurs gerutscht. Was zu verstören scheint, könnte das unmittelbare Nebeneinander der Profile von Lebenden und Toten sein.
Bei Stuff wird übrigens darauf hingewiesen, dass Sadikki nicht der erste ist, der in Bezug auf Facebook ein Zukunftsszenario entwirft. Der Autor Randall Munroe (vor allem durch seinen Web Comic XKCD und durch sein Buch What if? bekannt) schätzte schon 2003, dass Facebook in den 2060ern oder den 2130ern zu einem digitalen Grab werden könnte.
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