Die ganze Welt als Hinterbliebene: digitale Schriftsteller-Nachlässe

Das Feuilleton der FAZ fragt, was von großen Schriftstellern, Dichtern und Denkern wie Thomas Mann oder Ingeborg Bachmann überliefert worden wäre, hätten sie digital kommuniziert:

„Nichts, was an die Ausführlichkeit von Briefwechseln heranreicht“, vermutet Dirk Weisbrod, der an der Humboldt Universität in Berlin über digitale Autorennachlässe promoviert wurde. Obwohl digitale Nachlässe in ihrem Umfang den eines analogen häufig deutlich überschreiten, seien zum Beispiel die über soziale Netzwerke laufenden Konversationen pragmatischer und weniger ausführlich geworden. Würde man jedoch den digitalen Nachlass eines Schriftstellers in seiner Gesamtheit auswerten, zu dem E-Mail-Postfächer, Einträge in sozialen Netzwerken, aber auch mehrere Festplatten gehören können, wüsste man wahrscheinlich eine ganze Menge.

Das gibt aus mehreren Gründen Anlass, sich mit Vorkehrungen für digitalen Nachlass zu beschäftigen – auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Einige Gedanken, die uns bei der Lektüre kamen, möchten wir kurz skizzieren und die Lektüre des Artikels empfehlen!

Wer wird bedeutend?

Einerseits ist nicht immer schon zu Lebzeiten klar, wer einmal bedeutend sein wird: Das Phänomen des posthumen Ruhms ist durch Literaten wie Franz Kafka oder H.P. Lovecraft wohlbekannt, und wäre von diesen Autoren kein umfangreicher Briefwechsel erhalten geblieben, wüsste man bedeutend weniger über sie. Dieser Briefwechsel dürfte bei gegenwärtigen Künstlern, Denkern und Forschern digitaler Natur sein – wodurch die Archivarbeit einerseits erleichtert wird, andererseits aber durch Datenschwund und fehlender Übersicht auch stärker gefährdet ist.

Bekanntermaßen ist der Fall Kafka auch ein Beispiel für die moralischen Fragen, die mit Nachlasspflege einhergehen:

Kafkas Werke wurden zum größeren Teil erst nach seinem Tod und gegen seine letztwillige Verfügung von Max Brod veröffentlicht, einem engen Freund und Vertrauten, den Kafka als Nachlassverwalter bestimmt hatte. Kafkas Werke werden zum Kanon der Weltliteratur gezählt. (Wikipedia)

Hätte Brod der Verfügung Kafkas entsprochen, wäre der Welt ein bedeutender Schriftsteller entgangen. Dieses Problem wird sich durch vermehrt digitale Nachlässe nicht lösen, sondern verstärken, zum Beispiel dann, wenn persönlich-privates und für die Öffentlichkeit geeignetes Material sich noch stärker vermischen als bisher. Denn wer trennt in der E-Mail-Korrespondenz und auf der Festplatte schon konsequent zwischen „Leben“ und „Werk“?

Angesichts des unübersichtlichen digitalen Nachlasses von Autoren wird es zudem noch schwerer, Entscheidungen über Publikation oder Entsorgung zu treffen, als bei einem vom Autor schon vorsortierten Briefwechsel.

Wie sorgt man als Gesellschaft für Fragen vor, die in der Zukunft gestellt werden könnten?

Für die Gesellschaft und ihre kulturelle Tradition stellt sich dazu die Frage, wie wir Material von bedeutenden Menschen und solchen, die es für Wissenschaft, Forschung und Kultur werden könnten, aufbereiten sollten.

Viele Wissenschaftler, Biographen und Forscher würden liebend gerne die Gelegenheit wahrnehmen, einen Fabrikarbeiter aus den 1860er oder einen Soldaten aus den 1920er Jahren zu interviewen – ebenso wie prominente Politiker oder Künstler dieser Zeit. Leider ist uns von diesen Menschen aber meist wenig bekannt, wenn überhaupt, dann nur die wichtigsten Dokumente und vielleicht ein Tagebuch, gegebenenfalls Briefwechsel und Zeitungsausschnitte.

Über heutige Menschen ist aber sehr vieles bekannt, von Bewegungsdaten über Facebook-Updates bis hin zu digitalen Dokumenten. Das wirft einerseits Datenschutzbedenken auf; aber andererseits auch die Frage nach der Aufbereitung für künftige Generationen. Eine umfassende Dokumentation unserer Lebenswelt erscheint uns heute vielleicht als (gefährlicher) Datenmüll, er könnte aber künftige Forschung erleichtern oder erst ermöglichen. Dafür sind nicht nur prominente Nachlässe interessant, sondern prinzipiell das virtuelle Erbe jedermanns.

Datenmassen auswertbar gestalten

Mit der Technik hinter Archiven befassen sich weltweit zahllose Forscher, die an Magnetband- ebenso wie an DNA-Lösungen arbeiten. Aber auch die inhaltliche Aufbereitung wirft Fragen auf. Im FAZ-Artikel wird das Beispiel des Drehbuchautors und Schriftstellers Kittler bemüht, der 1,1 GB (relevante) Daten hinterlassen hat:

Vor allem die vielfältigen Medienformate stellen eine Herausforderung im Umgang mit Kittlers digitalem Nachlass dar. […] Der Informatiker Jürgen Enge hat zusammen mit dem DLA das Suchmaschinenprogramm „Kittler-Indexer“ entwickelt, das es ermöglicht, durch die ganzen 1,1 Terabyte Daten zu „browsen“. Damit diese enorme Datenmenge anschließend aber auch inhaltlich aufbereitet werden kann, bedarf es eines Teams, das im Umgang mit digitalen Nachlässen geschult ist.

Es ist anzunehmen, dass es in der Zukunft nicht ausreichend viele derartige „Teams“ von digitalen Kuratoren geben wird, um jedermanns Nachlass zu sortieren und auszuwerten.

Daher stellt sich die Frage, was wir bereits heute tun können, um Datenmassen auswertbar zu gestalten – auch in Hinblick auf Fragen, die wir nur erahnen können, und auch für Personen, die uns heute als unbedeutend erscheinen. Sowohl in Hinblick auf den heutigen Fabrikarbeiter, als auch auf einen gegenwärtigen Franz Kafka.

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