Computerarchäologie und digitaler Nachlass: Interview mit Dr. Stefan Höltgen

Dr. Stefan Höltgen (privat) ist bekannt für seine Beschäftigung mit Computerarchäologie. Wir haben ihm einige Fragen zu Exponaten aus Nachlässen, Spuren Verstorbener und zur Technikgeschichte gestellt. Zudem hat er uns einen Einblick in die Sammlungen der HU Berlin gewährt und einige Fotografien von Exponaten, Nachlässen und „Vor-Lässen“ zur Verfügung gestellt.

Herr Dr. Höltgen, die Methodik Ihrer Medien- und Computerarchäologie zielt nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart.

Inhalt

Dr. Stefan Höltgen
Dr. Stefan Höltgen

Sehr richtig. Medien- und Computerarchäologie hat zunächst einmal nichts mit dem akademischen Fach „Archäologie“ zu tun, das sozusagen als Hilfswissenschaft für die Geschichtsschreibung Artefakte ausgräbt. Archäologie, wie wir sie meinen, basiert auf dem Konzept Michel Foucaults, der Ende der 1960er-Jahre versucht hat, die Geschichtsschreibung auf ihre Macht-Dispositive zu untersuchen und zu fragen, welche Mechanismen stecken eigentlich hinter Geschichtsschreibung, die Geschichte so (und nicht anders) produziert, die auf bestimmte Archivgegenstände zurückgreift (und andere ignoriert), die bestimmte Argumentationsmuster und Stilmittel verwendet, um aus den kontingenten vergangenen Ereingnissen Wissen zu generieren. Dass sich diese Vorgehensweise nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart anwenden lässt, dürfte klar sein.

Medien- und Computerarchäologie versteht sich als Methode, die diesen Zugriff auf Wissen ebenfalls untersucht, dabei jedoch nicht die Diskurse aus den Archiven holt, sondern fragt, welchen Anteil eigentlich die Medientechnologien an der Prouktion von Wissen hatten und haben. Im Hinblick auf den Computer wird schnell klar, dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts Geschichte so abhängig von dieser Technologie ist, weil eben viel durch die Entstehung von Computern passiert ist, weil aber die Computer selbst als Werkzeuge für den Historiker dienen, dass wir diese Technologie (wie zuvor auch schon alle Denk- und Schreibwerkzeuge) dringend daraufhin befragen müssen, welchen Anteil sie am Wissen und Nichtwissen in unserer Kultur besitzt.

Das geht übrigens nur dann, wenn wir verstehen, was Computer sind, wie sie funktionieren und wozu sie benutzt wurden und werden. Denn Wissen wird im Computer auf spezifische Weise gespeichert, übertragen und verarbeitet: als Signale und mit Hilfe von Verschaltungsstrukturen, Algorithmen und in Interaktionen mit dem Nutzer. Hier entstehen zahlreiche Detailfragen, je nachdem, welchen Fokus man auf die Computer (und ihre Teile) hat.

Sie verwalten an Ihrem Institut zwei Sammlungen: den „Medienarchäologischen Fundus“ und das „Signallabor“. Welche Rolle spielen dabei Nachlässe?

"Vor"lass Horst Völz
„Vor“lass Horst Völz

Unsere Sammlungen sind keine Archive oder Museen. Daher geht es uns auch nicht ums „Bewahren“. Der Akzent liegt eher auf der Verwendung und dem Verständnis der alten Medientechnologien zur Erzeugung von Wissen über neue Medientechnologien. Alte Geräte bieten den Vorteil, dass sie weiträumige Strukturen haben, die sich mit unseren Methoden (wir sind ja keine Ingenieurwissenschaftler) leichter untersuchen lassen. Wir bekommen viele dieser Objekte als Spenden, teilweise auch aus Nachlässen.

Letztens wurde zum Beispiel das private Labor eines verstorbenen Elektronikers aufgelöst. Die Witwe wollte die Dinge nicht einfach auf den Müll geben und hat uns Teile davon gespendet. Teile deshalb, weil wir eben erstens auch nicht alles für unsere Forschungs- und Lehrzwecke verwenden können und zweitens, weil einige Objekte einfach zu wertvoll oder unikal sind, um sie unseren „invasiven Methoden“ auszusetzen. Ich vermittele in solchen Fällen hin und wieder zwischen Spendern und Museen, die der bessere Ort für solche Artefakt sind.

Welche Funde machen Sie in den Wissens- und Kommunikationsspuren, die in Ihren Exponaten gespeichert sind? Was sagen diese Spuren aus?

Vintage Computing Festival Berlin 2014
Vintage Computing Festival Berlin 2014

In der Sammlung des Signallabors kommen manchmal Nachlässe aus Computersammlungen an. Darunter befindet sich dann nicht nur die Standard-Hardware (also gekaufte Geräte in unterschiedlichem Zustand), sondern häufig auch Individuelles: Geräte sind mit persönlichen Erweiterungen vom Vorbesitzer modifiziert worden, eigene selbstgelötete Erweiterungen für spezifische Nutzungsformen sind dabei und am häufigsten finden sich Datenträger mit selbst programmierter Software.

All diese Objekte sind besonders deshalb interssant, weil sie nicht nur Technikgeschichte darstellen, sondern etwas über die konkreten Nutzungsweisen von Computern in der Vergangenheit aussagen. Ich generiere daraus natürlich keine Mentalitätsgeschichte der Computernutzung, sondern untersuche diese Objekte als Ergebnisse von Selbstausbildungen, als Resultate von Wissensarbeit und Erkenntniserzeugung auf Amateurniveau und als Vertreter einer (mittlerweile untergegangenen) Nutzungsweise von Digitalcomputern.

Haben Sie ein Lieblings-Exponat aufgrund der darauf hinterlassenen Informationen?

Wichtig für Computerarchäologie: Spende privater Software
Spende privater Software

Ja, da wären zwei zu nennen: Zum Einen habe ich einen Vorlass von Professor Horst Völz bekommen: Ein Exidy Sorcerer (ein 8-Bit-Computer der frühen 1980er-Jahre) mit Dokumentation und Peripherie. Das besondere daran: Dieser Computer wurde vom Vorbesitzer „illegal“ aus Westdeutschland in die DDR eingeführt, um damit Software für die DDR-Homecomputer „KC-85“ zu entwickeln. Völz hat auf diesem Computer ein dann weit verbreitetes Textverarbeitungsprogramm geschrieben. Dazu liegt nicht nur der Prototyp des Programm-Moduls vor, sondern auch noch alle Software-Unterlagen bis hin zu den verschiedenen Versionen und Entwürfen. Es ist sehr selten (erst recht für die DDR-Computer-Szene), dass etwas so kleinteilig dokumentiert ist. Mittlerweile haben wir das System sogar wieder zum Laufen gebracht und können live zeigen, wie die Software entwickelt wurde.

Das andere Exponat ist eine Mappe mit Ausdrucken und Handschriften eines verstorbenen Computer-Besitzers. Sein Bruder hat mir diese Dokumente vor einem Jahr in München auf dem „Vintage Computer Festival“ übergeben. Darin sind seine Programmierversuche, seine fertigen Programme und, was besonders interessant ist, seine handschriftlichen Korrekturen und Entwürfe enthalten. Wiederum geht es mir hier nicht um die Frage einer Individual-Historie. Diese Dokumente sind Artefakte, die eine sehr spezifische Form der Computerprogrammierung vor Augen führen: das Programmieren ohne Computer! Nur mit Papier und Stift „bewaffnet“ haben Jugendliche in den 1980er-Jahren, wenn sie noch keinen eigenen Computer besaßen, Programme für einen Computer vor-entworfen und dann bei Freunden, in den Computerabteilungen von Kaufhäusern oder im Computerraum der Schule abgetippt.

Medienarchaeologischer Fundus
Medienarchaeologischer Fundus

Dabei haben sich sehr interessante Denk- und Programmierfehler ergeben, die nur dann passieren können, wenn der Mensch versucht, komplexe Algorithmen mental nachzuvollziehen und ohne Computer ausschließlich mit seinem Verstand „zum Laufen bringen“ muss. Ich habe seitdem angefangen, solche papiernen Artefakte zu sammeln und werde 2017 oder 2018 ein Buch mit Faksimiles davon herausgeben, um diese vergangene Programmierkultur noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Wie ändert sich Ihre Arbeit dadurch, dass Endgeräte wie Tablets und Laptops immer mehr zu reinen Terminals werden, die auf vernetzte Systeme zugreifen – und dadurch immer weniger Wissen auf den eigentlichen Exponaten verfügbar ist?

Signallabor
Signallabor

Die ändert sich kaum, weil wir ja vor allem auf alte Geräte zugreifen, um daran zu zeigen, wie neue Technologien funktionieren. Etwas wirklich neues wird selten erfunden. Zumeist haben wir es mit Miniaturisierungen, Beschleunigungen und Radikalisierungen zu tun. Medien- und Computerarchäologie heißt auch, dass wir historische Kausalitäten und Kontinuitäten argumentativ unterlaufen, indem wir zeigen, dass viele technische Artefakte von heute auf „alten“ Ideen und technischen Konzepten basiert:

Ein Smartphone oder Tablet-Computer ist prinzipiell immer noch eine Turing-Maschine und basiert auf der Von-Neumann-Architektur. Das sind Konzepte aus den 1930er- und -40er-Jahren. Wir zeigen dann z.B. an der Grafik-Generierung eines Homecomputers der 1980er-Jahre, wie die Grafik auf einem Tablet prinzipiell funktioniert. Genau diese Vorgehensweise führt dazu, dass die Scheu vor dem vermeintlichen Fachwissen über Computer verloren geht und man die neuen Geräte nicht mehr mit der falschen Ehrfurcht des Verstehe-ich-sowieso-nicht als bloßes Kommunikationstool versteht.

Wie bilden Sie das Wissen, das Menschen in Computernetzen hinterlassen, in Ihren Sammlungen ab?

Modifikationen Exidy Sorcerer
Modifikationen Exidy Sorcerer

Das geschieht auf unterschiedliche Weise. Wir vernetzen uns natürlich selbst mit den Szenen und ihren Datenbanken, um dort unser Wissen einzubrigen. Wir spiegeln aber auch viel auf unseren Rechnern – etwa historische Software. Im Internet gibt es zahlreiche Server, auf denen die Software der vergangenen Jahrzehnte als Datei abgelegt ist (da fehlt dann natürlich der ganze Kontext und die Paratexte). Solche Sammlungen lade ich auf die Festplatten unseres Signallabors, damit wir sie zu Forschungs- und Lehrzwecken vorrätig haben.

Internetseiten sind ja bekanntlich nicht „unsterblich“. Viele Projekte verwaisen oder werden aus anderen Gründen vom Netz genommen. Damit wir die Daten von dort weiter nutzen können, spiegeln wir sie. Das hat aber nur am Rande etwas mit „Software Preservation“ zu tun, denn wir tun das weder systematisch noch professionell. Wie die oben genannten Methoden und Praktiken ist auch diese Form der Wissensarchivierung dem modus operandi der Archäologie unterworfen, was bedeutet, dass wir ohne Ehrfurcht an die Mediengeschichte herangehen.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

Alle Bilder (c) Stefan Höltgen

2 Gedanken zu „Computerarchäologie und digitaler Nachlass: Interview mit Dr. Stefan Höltgen“

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